Mikroskopisches Chaos im Wasserglas?

Ein Gedankenexperiment fuer warme Sommertage: man nehme ein kleines Stueck Speiseeis und tue es vorsichtig in ein Wasserglas. Gemaess der Alltagserfahrung wird sich das Speiseeis langsam aufloesen, und die einzelnen Bestandteile werden sich dabei langsam im Wasser verteilen.

Man kann sich nun die beteiligten Speiseeis- und Wassermolekuele als mikroskopisch kleine Billardbaelle vorstellen, die sich hin- und herbewegen und dabei elastisch miteinander stossen. Getrieben durch diese Stoesse verteilen sich die urspruenglich lokalisierten Speiseeismolekuele letztendlich ueber das gesamte Wasserglas.

Wie nun allerdings jeder Billardspieler weiss, ist die Richtung zweier Billardbaelle nach dem Stoss stark davon abhaengig, in welchem Winkel und mit welchen Geschwindigkeiten die beiden Kugeln aufeinandertreffen. Das gleiche trifft auf die Molekuele im Wasserglas zu, und diese sensitive Abhaengigkeit von den Anfangsbedingungen auf kleinen Skalen wird wissenschaftlich als ``mikroskopisches Chaos'' bezeichnet. In den letzten Jahren haben sich Physiker und Mathematiker intensiv bemueht, Transportprozesse wie die Diffusion von Teilchen in Gasen und Fluessigkeiten ausgehend vom Chaos beim Stossprozess zu verstehen.

Zu dieser Thematik findet am Max-Planck-Institut fuer Physik komplexer Systeme in Dresden im August eine dreiwoechige Tagung statt, an der 90 Wissenschaftler aus 22 verschiedenen Laendern teilnehmen. Diskutiert werden die Konsequenzen von mikroskopischem Chaos fuer physikalische Prozesse wie Teilchendiffusion, Zaehigkeit und Waermeleitfaehigkeit von Fluiden oder den Widerstand von elektrischen Bauteilen.

Auch wenn die auf dieser Tagung behandelten theoretischen Konzepte sehr abstrakt und die beteiligten Experimentatoren bislang stark in der Minderheit sind, so ist langfristig zu erwarten, dass die hier entwickelten wissenschaftlichen Grundlagen von Bedeutung sein koennten fuer so verschiedene Systeme wie Halbleiter-Bauelemente im Nanometerbereich, biophysikalische molekulare Motoren oder industrielle Ruettelratschen.

Rainer Klages

(Auszuege dieser Presseerklaerung sind am 7.8.2002 in der `Saechsischen Zeitung' veroeffentlicht worden.)